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Intro

Dreißig Speichen treffen die Nabe,
die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen,
die Leere darinnen macht das Gefäß.
Fenster und Türen bricht man in Mauern,
die Leere damitten macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes,
das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.

Das Tao Te King von Lao Tse, Vers Nr. 11, Übersetzung: Walter Jerven (1928)

http://web.archive.org/web/20100417145958/http:/home.pages.at/onkellotus/TTK/German_Jerven_TTK.html#Kap31

Zu Persona

[…]

Der Mensch ist ein Ganzes, das sich aus Beziehungen entwickelt und das mehr ist als die Summe seiner Teile, in die er analysiert werden kann. Manche nennen die Ganzheit eines Menschen sein „Selbst“. Auch im Zusammenleben gruppieren sich Ganzheiten, die mehr sind als eine Summe von Individuen. Dieses „Mehr“ können wir Seele nennen, als erlebbare Ganzheit einer Person, einer Gruppe, einer Gesellschaft, der Menschheit. Als Seele bleiben wir, weil in uns teilelos ausgedehnt, für uns selbst und den Beobachter unscharf.

Als Seele bleiben wir für uns selbst und den Beobachter unscharf.

[…]

Die Möglichkeiten sind begrenzt. Aber diese Grenzen bleiben unscharf, bis sich in einem Faktum eine Möglichkeit klar herausschält. Jetzt ergeben die Grenzen ein scharfes Bild. Das Individuelle und Konkrete zeigt seine umrissene Gestalt. Wir können klar sehen. Das Dahinter und das Dazwischen, das Allgemeine und Übergeordnete, das Verbindende und Zusammenwirkende verschwinden hinter der Klarheit, die uns Gedanken fassen und bewusst handeln lässt. Doch in den Wirkungen des Denkens und Handelns kommt das Unscharfe zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit, zwischen Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit wieder zu seinem Recht.

[…]

In Beziehung sein (Auszug). Text von Jakob R. Schneider aus dem Katalog „Windows and Crossroads“ 2019.

Zu Crossroads

Im Allgemeinen benennen wir mit Schicksal alle Vorgegebenheiten und Vorgänge, die uns von der Vergangenheit her unabwendbar widerfahren. Schicksal ist die kausale Kategorie der Mitmenschlichkeit im Verlauf unseres Seins in der Zeit. Beziehungen können versinnbildlicht werden durch das „Netz“, einer räumlichen Kategorie. Bindung entsteht an den existentiell bedeutsamen Knotenpunkten des Beziehungsnetzes, das sich durch die Zeit bewegt.
Alle Geschehnisse um Leben und Tod, Zugehörigkeit, Schuld und gerechten Ausgleich, tiefen Schmerz und die Sinne überfordernde Schrecknisse wirken als Schicksal über Generationen hinweg und binden Spätere in die Wirkungen der Ereignisse ein, die den Früheren wiederfahren sind. Müssen wir diese Wirkungen in unser Leben aufnehmen, ohne dass wir das wissen und wollen, sprechen wir von „Verstrickung“. Binden wir unser Leben aus bewusstem Mitgefühl und unbedingtem helfen wollen an die Schicksale anderer, bewegen wir uns zwischen Hingabe und Preisgabe, Opfer und Anmaßung.

[…]

Die eher gottferne Moderne baut auf Vernunft, Wissenschaft und Selbstmächtigkeit des Menschen. Sie löst Schicksal auf in der Autonomie des freien Individuums. Dort, wo die Vergangenheit auf Personen, Familien und der Gesellschaft lastet, versucht sie durch psychotherapeutische, soziale und politische Maßnahmen die individuelle und gesellschaftliche Funktionalität wieder herzustellen oder zukunftsfähig zu machen.

Waren die griechischen Moiren oder römischen Parzen noch die Spinnerinnen und Hüterinnen des Lebensfadens, die mit Geburt und Tod das menschliche Maß setzten, haben wir begonnen, auch vom Baum des Lebens zu essen und Geburt und Tod vom Himmel loszuketten. Hat der Gedanke an die Macht des Schicksals ausgedient? Oder hat er sich nur auf die unvorhersehbaren Wirkungen menschlicher Selbstermächtigung und globaler gesellschaftlicher Komplexität verlagert? Die Zeitungen sind immer noch angefüllt mit Schicksal.

Und die Gesetzmäßigkeiten der Natur behaupten ungerührt ihre Geltung.

Vielleicht wird die Unvorhersehbarkeit menschlichen Lebens zwischen der spontanen Freiheit der Geburt und der Verlässlichkeit des Todes durch künstliche Intelligenz beherrschbar werden. Vielleicht gelingt es dem einzelnen Menschen und auch der ganzen Menschheit, nichts mehr dem Zufall zu überlassen. Vielleicht werden wir Apps entwickeln, mit Hilfe derer wir alle Wirkungen unseres Handelns berechnen können. Wahrscheinlich ist das nicht.

In Beziehung sein (Auszug). Text von Jakob R. Schneider aus dem Katalog „Windows and Crossroads“ 2019.

Jörg Kraus: Windows and Crossroads

This catalog was published for the exhibition Windows and Crossroads in the Holy Spirit Church in Heidelberg in 2019. The aisle of the church turned into an exhibition space, and services made reference to it.

Authors:
Prof. Hans Gerke (Heidelberg University of Education / Former Director of the Heidelberger Kunstverein)
Dr. Vincenzo Petracca (Director of the City Church of the Holy Spirit , Heidelberg)
Jakob R. Schneider (Psychotherapist, Munich)

Published: March 2019
Pages: 60
Publisher: Kunst Stuttgart International e.V.
ISBN: 978-3-947408-14-6
Design by: Teresa Lehmann